Ungelöst

Anja Mattenklott: "Ungelöst", 2016, 70 cm x 50 cm, Gouache, Pigment, Graphit auf Karton
Anja Mattenklott: "Ungelöst", 2016, 70 cm x 50 cm, Gouache, Pigment, Graphit auf Karton

Das Bild kam in der Morgendämmerung zu mir:

Eine Frau reitet auf einem weißen Reh im Wald, auf dem Weg zu ihrer Quelle. Ein Mann folgt ihr auf seinen Füßen. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen. Er trägt die Maske eines Adlers. Die Frau bemerkt ihn und hält ein, fühlt sich gestört in ihrem Alleinsein, kann nicht ermessen, ob der Fremde freundlich oder feindlich gestimmt ist.

Sie erhebt den Bogen und spannt die Sehne mit dem Pfeil, den Eindringling abzuwehren.

Dieser hebt die Flügelarme wie zur Beschwichtigung. Vielleicht ist es sein Wald, in dem sie erschien?

Etwa ein halbes Jahr später begann ich mit der Umsetzung der Skizze. Die Vorahnung hatte sich mit Leben gefüllt und es galt, den Dingen auf den Grund zu gehen.

Innerhalb einer Seelenlandschaft, in der durch das Einander-Erblicken lang Vergessenes wiedergefühlt und sichtbar wird.

Jeder Mensch trägt Muster in sich. Der Adlermann ist ein kraftvolles, mächtiges Wesen mit einem starken Herzfeuer in seiner Brust. Sein Strom in die Glieder ist geschwächt von Zwängen und Blockaden. Vitalität und Wachstum und alte kalte verkrustete Einschlüsse zeigen sich in den Streifen seiner Hosen.


Auf seinen Ärmeln der Wolkenhimmel und die Schlangenfamilie weisen auf eine Zugewandtheit einerseits zum Licht, zu höherem Sein, Spirituellem und Geistigem, andererseits zum Dunklen, Unbewußten, Machtkämpfen, Gewalt, Trieben, Wissen um Leben und Tod, und die Fähigkeit zur Transformation.

Die strahlende Außenseite und die trauernde Innenseite seines Umhanges.

Der Tausendfüßler symbolisiert die reisende Natur des Adlermannes.

 

Auf dieser Reise begegnet er einer weißhaarigen Frau, die sich trotz ihrer erhöhten Position als Reiterin bedroht fühlt und ihrerseits eine Angriffsgeste einnimmt. Ihre Blicke treffen sich ernst und eindringlich.

Da ist Schmerz, Trauer, Angst, Abwehr, Entschlossenheit, Verstehen. Die grüne Pfeilspitze entzündet sich und schmilzt die Eiszapfen. Ein Liebespfeil zur Abwehr von Liebe und Begehren? Was geschieht, wenn sie die Sehne losläßt?

Auf der Lende ihres Reittieres steht "Fragile"- empfindlich, zerbrechlich. Auf dem Stamm über der Adlermaske steht es auf japanisch. Beide kennen die Wunden des Herzens, die Narben der Seele. Die Angst vor erneuter Verletzung, den Sog der sinnlichen Anziehung, die Zwiespälte dazwischen. Warum kann es nicht einfach sein?

Sie tragen ihre Muster.

In die Mitte der Szene bricht eine Spitterzunge mit den weißen Worten "Krieg" in verschiedenen Sprachen der Erde. Krieg, der die Beziehungen der Geschlechter seit tausenden Jahren über Generationen belastet.

Krieg, der die Beziehung traumatisierter Eltern zu ihren Kindern belastet. Traumatisierte Kinder in unlösbaren Konflikten zwischen Beziehungswunsch und Beziehungsangst.

Auf ihrem Hemd die wechselnde Erfahrung von Feuer und Eiseskälte. Das beunruhigende Unverständnis der kalten und glühenden Splitter. Der ewige Puzzleweg zu einem Bild, das Sinn ergibt. Damit Frieden einziehen kann.

Der Herzgürtel, der Schmetterlingsrock für Liebe, Sinnlichkeit, Sexualität und Transformation.

Die pinken Totenkopfstiefel (Liberty-Boots, Modell "Brody rocks") verbinden Leichtigkeit mit Tiefe, Witz mit Wissen um den Tod. Tod auch in dem Sinn, daß etwas sterben muß, um Neuem Platz zu machen.

Wie kleine Armeeeinheiten beschreiben Frösche und Schlangen die Kraftfelder zu Füßen der Hauptfiguren.

Während die Schlangen munter und frechfröhlich züngelnd auf das Rehgebiet zuschlängeln, hocken die Frösche aufmerksam abwartend an ihrem Platz.

Als Krafttiere, die zu Land und Wasser leben, können sie helfen, Gefühle und Verstand in Einklang zu bringen. Als Fruchbarkeitssymbole weisen sie auf die Themen Liebe, Erotik, Sexualität, Seelenverwandschaft. Frau/Mann muß viele Frösche küssen, um den passenden zu finden. Der Frosch hilft auf die Sprünge, wenn man Neues wagen möchte. Beim Kambo-Froschritual wird sein Gift verwendet, um Krankmachendes aus dem Körperinneren zu befördern.

Die Schlangen sind uralte Symbole für die Schöpfung und Sexualität. Sie können töten und erschaffen, haben Dämonisches und Göttliches an sich. Als Krafttiere helfen sie, alte Lebensabschnitte hinter sich zu lassen und die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen.

 

Es geht hier um ein Abschätzen der Kräfte und Dynamiken. Der Klärung von allem, was da ist.

Um eine Lösung der Schmerzstarre zu finden. Eine Lösung zu einem weiteren Umgang miteinander.

Das macht Veränderungen in den Haltungen der Dargestellten notwendig.

Die Waffen ablegen, von der Hindin steigen, die Maske abnehmen, sich zu erkennen geben.

Im Prozess des Erkennens des Anderen offenbart sich das Selbsterkennen, mit den eigenen Licht- und Schattenseiten, den Wunden, den Wurzeln, den Wegen. Es gilt, sie zu verstehen und anzunehmen, sich selbst anzunehmen. Und mit dem Wissen um die eigene Verletzlichkeit sich doch zu öffnen, einem Gegenüber, das wie ein tiefer Brunnen mit seinem Augenspiegel ein wertvolles Geschenk sein kann.

 

(c) Anja Mattenklott, 3.+5.+9.1.2018