Für dieses Bild kamen mehrere Komponenten in meine Augen: historische Aufnahmen von Gänsehüterinnen mit Gänsen in lauschigen Wald-Wasser-Landschaften, ein schürzeschüttelndes Mädchen in einer Tracht aus Rosporden, ein ruhiges, witziges, freches bretonisches Mädchen, viele Mädchen und Frauen aus dem Gebiet um Quimper in messingbestickten schwarzen Samtkleidern und Spitzenhauben, ein Hirschmosaik der französischen Werkstatt Odorico in der Graalskirche von Tréhorenteuc.
Eine Deckeninschrift dieser Kirche, die vorchristliche Mythen und Christentum in sich verbindet, lautet:
"La porte est dans dedans." - "Die Tür ist innen drin."
Im kurzen Moment des Geistesblitzes sah ich ein Mädchen, das voller Lebenskraft, Freude, Phantasie und einem gewissen Schalk beherzt lauter Wunder aus ihrer Schürze schwingt.
Hier kann mein kleines Bewußtsein nachträglich nur eine müde Erklärung meines, in seinen unendlichen Tiefen wirkenden Unterbewußtseins versuchen:
Das Mädchen mit all seinen Potentialen, lebt sie aus und tut, was in ihm steckt, um sie ins Leben zu bringen.
Als Mädchen hat es die potentielle Kraft, später als Frau Jungen und Mädchen zu gebären und sie gemeinsam mit den Männern und Frauen, Kindern und anderen Wesen der Welt auf ihren Weg zu bringen.
Im übertragenen Sinne und auch tatsächlich hat es auch die Kraft, Neues zu erschaffen, schöpferisch zu sein.
Genau wie den kleinen Jungen, gebührt den kleinen Mädchen Respekt, weil sie die menschliche Zukunft sind,
weil sie die Verbindung zwischen dieser und allen kommenden Generationen sind.
Nur was sie lernen und erfahren, können sie an die nächste Generation weitergeben.
Deshalb wirken erlebte Kriege so belastend, bis lange nach den tatsächlichen Ereignissen auf die Familien der Kinder, Enkel und Urenkel.
Das Gänsehüten wurde in der vorindustriellen Zeit üblicherweise den Kindern und Jugendlichen eines Dorfes oder einer Gemeinde anvertraut. Sie sammelten morgends, mitunter Flöte spielend, die Gänse der Bauern ein, führten sie zu ihren Futterplätzen auf die Wiesen, ins Waldland oder im Herbst auf Stoppelfelder, wo sie sie beaufsichtigten und trieben sie abends zurück in ihre Schlafställe.
Im deutschen Volksmund wurden sie meist "Gänseliesel" und "Gänsepeter" genannt.
In vielen alten Kulturen ist die Gans ein heiliger Vogel und bestimmten Göttinnen zugeordnet.
Mythologisch kann man das Gänsehüten als Dienst an der Göttin betrachten, mit der Aufgabe, die eigene Weiblichkeit zu entfalten.
Die Gänse stehen im Bereich des mütterlich weiblichen für Wärme (z.B. Federn), Nähren (z.B. Fleisch, Fett, Eier), Behüten und Fruchtbarkeit, im Bereich anderer weiblichen Seiten für Eros, Sexualität, Aggression, Mut und Selbstbehauptung.
Als Krafttiere stehen sie für Treue, Zuverlässigkeit, Durchsetzungskraft und lehrt uns Verantwortungsbewußtsein zu entwickeln und Fürsorge für die Familie zu übernehmen.
Beim Malen hörte ich gerne das von den Brüdern Grimm gesammelte Märchen von der "Gänsehirtin am Brunnen". Eine meiner Lieblingsstellen lautet:
"Die Luft war lau und mild; ringsumher breitete sich eine grüne Wiese aus, die mit Himmelsschlüsseln,
wildem Thymian und tausend andern Blumen übersät war. Mittendrurch rauschte ein klarer Bach, auf dem die Sonne glitzerte, und die weißen Gänse gingen auf und ab spazieren oder puddelten sich im Wasser."
Text: (c) Anja Mattenklott, Potsdam, 28. April, 5. und 7. Mai 2022